"Nördlich der Suionen liegt abermals ein Meer, träge und nahezu unbewegt. Daß es den Erdkreis ringsum begrenze und einschließe, ist deshalb glaubwürdig, weil der letzte Schein der schon sinkenden Sonne bis zum Wiederaufgang anhält, und zwar so hell, daß es die Sterne überstrahlt. Die Einbildung fügt noch hinzu, man vernehme das Tönen der emportauchenden Sonne und erblicke die Umrisse der Pferde und das strahlenumkränzte Haupt. Dort liegt - und die Kunde ist wahr - das Ende der Welt." (1)
So schreibt Tacitus in seiner Germania. Daß er mit seiner Meinung nicht allein steht, ich meine hier, daß er das Ende der Welt im Norden
gefunden zu haben glaubt, läßt sich anhand zahlreicher Beispiele überprüfen. Mit den Wörtern "bekannt, aber
unerreichbar"(2) könnte man am besten beschreiben, welche Kenntnisse
die antiken und mittelalterlichen Gelehrten vom nördlichen Ende der Welt gehabt haben.
Es ist Eigenart des menschlichen Geistes, das rätselhafte Unbekannte erkunden zu wollen, und sei es nur in der Phantasie. So ist es kaum
verwunderlich, daß sich im nordischen Nebel erstaunliche Länder, sagenhafte Inseln bevölkert von ebenso erstaunlichen Geschöpfen
befinden. Wie weit die beflügelte Phantasie in diesen mythischen Nebel vordringen kann und wo sie die Grenze der Tatsachen erreicht, Platz gebend
dem forschenden Blick und analysierenden Geist des Wissenschaftlers, soll hier untersucht werden.
In Laufe der Geschichte haben viele versucht, diesen Nebel zu durchdringen. Einige haben es geschafft und Kunde über den Norden gebracht, aber
ebensoviele sind gescheitert. Wenn vor uns sich der Nebel lichtet, erblicken wir vielleicht statt dem terra repromissionis sanctorum des Hl. Brendans
nur die atemberaubende Schönheit der Natur.
In der klassischen Antike war der Horizont der ( Süd - ) Europäer auf dem das Mittelmeer umgebenden Raum beschränkt. Die Nachrichten
über nördliche Länder erreichten nur langsam und sporadisch die antike Welt. Ein Grund weshalb die Kenntnisse Nordeuropas so gering waren,
lag in der antiken Auffassung, der Norden sei überhaupt unbewohnt und unbewohnbar
(3). Die Grenzen Nordeuropas beginnen, nach der allgemeinen Meinung der Antike,
bei den Ripheischen Bergen, aus denen auch der Fluß Tanais ( Don ) entspringt. Er stellt bis zum Schwarzen Meer die Trennlinie zwischen Europa und
Asien dar. Im Westen kennt man Germania und die Insel Britannia.
Es sind zwei Autoren in dieser Zeit, deren Berichte über Nordeuropa mehr Beachtung verdienen.
Von dem, auch als Vater der Geschichte bezeichnete Griechen, sind uns mehr an Materialien überliefert als von seinem Zeitgenossen Hekatäus.
Nach Herodot beginnt das bekannte Land im Westen mit den Kynesiern oder Kyneten. Neben ihnen wohnen die Kelten(4).
Sie scheinen bis an das Mittelmeer zu reichen und zwar südöstlich von den Kyneten wie nordöstlich von den Iberen. Weiter sind die Eneter
erwähnt, von denen östlich die Ebene der Triballer liegt, durchströmt von den Flüssen Angros und Brongos(5).
Ihre östlichen Nachbarn sind die Krobyzer, die als Bewohner Westbulgariens zu erkennen sind. Ihre Nordgrenze mag der Ister gebildet haben. Der
Ister fließt durch bewohntes Land - schreibt Herodot an einer Stelle - und er ist vielen bekannt.
Auf dem linken Ufer kennt der Historiker das Nomadenvolk der Sigynnen. Neben ihnen gibt es kein Volk mehr im Norden des Isters. Die Lücke bis zur
Quelle des Maris füllt Herodot durch kalte unbewohnbare Strecken aus. Dementsprechend sind ihm und vielen anderen nach ihm die nördlichen
Gegenden, von denen sie nichts zu berichten wissen, zu kalt für menschliche Bewohner(6).
Das linke Ufer des Isters wird an seinem unteren Lauf von den Skyten bewohnt. Um Skytien oder Skolatien legt Herodot einen Gürtel bewohnter Gebiete, der vom Maris zum Tanais an mehreren Stellen durch unbewohnte Wüste getrennt ist. Es folgen von West nach Ost: Agathyrsen, Neuren, Androphagen und Melanchlänen. Jenseits des Flusses Tyros ( Dnjester ) ist zunächst Wüste, über ihr wohnen die schon erwähnten Menschenfresser ( Androphagen ). Über diesen dehnt sich wieder auf unabsehbare Weiten eine menschenleere Öde aus.
Der Grieche aus Massilia bereiste die Atlantikküste bis zu den britischen Inseln und weiter, vielleicht erreichte er sogar die Küsten Islands.
Es ist schwer die Frage zu beantworten, wie weit sich Pytheas in den späteren Autoren (rein oder entstellt) nachweisen läßt.
So ist es zum Teil ganz unmöglich aufzuklären, wie weit er selbst das Ziel seiner Reise von vornherein kannte, ob und in welchem Umfang ihm
etwa phönikische oder karthagische Quellen zu Verfügung standen(7).
Sein Werk "Über den Ozean" ist uns nicht erhalten, aber durch Vermittlung von Pomponius Mela und Plinius doch zugänglich.
Die Reise teilte sich in drei Abschnitte, die aber nicht als drei verschiedene Fahrten angesehen werden dürfen: bis Britannien, nach Thule und in
das Bernsteiland. Von der Bretagne fuhr Pytheas nordwestlich nach Britannien und umsegelte es(8).
Bei seiner Umseglung hat er vermutlich auch eine der Inselgruppen; der Orkneys, Shetland oder Färöer erreicht haben. Die äußerste
von den britischen Insel, Thule, soll 6 Tagereisen von der Hauptinsel entfernt sein und eine weitere Tagereise liegt das geronnene Meer(9).
Bewohnt war Thule, aber es müssen genügsame Menschen dort gelebt haben. Zahme Tiere kamen auf der Insel nicht vor, Getreide wuchs keines;
man nährte sich von Wurzeln, Früchten und Gartengewächsen(10).
Nördlich über Thule mag Pytheas eine Strecke weit hinaus gekommen sein, aber seine Berichte von dort gesehenen Naturerscheinungen, über
die Meerlunge und anderen Phänomene, sind verworren und äußerst phantasievoll.
Seit Pytheas geistert die Kunde(11) über die Insel Ultima Thule durch
die geographische Literatur. Normalerweise identifizierte man Thule mit Island doch ist die Forschung neben dieser Identifizierung für eine mit
Nordnorwegen eingetreten. Eine dritte Möglichkeit bot sich aus der Verwechslung - auf Grund der Namensähnlichkeit - mit der indischen Insel
Thile. Astronomisch bestimmt liegt die Insel unter dem Wendekreis wo der längste Tag 24 Stunden dauert. Die Erwähnung von halbjahrlangen Tagen
auf Thule bei Plinius kann, wenn überhaupt auf Pytheas fußend, nicht beweisen, daß er sie selbst beobachtet hat(12).
Der erste Autor, der unabhängig von der antiken Literatur, über Thule zu schreiben weiß und dieses mit Island identifiziert und die
Erscheinung der Mitternachtssonne auch korrekt beschreibt, ist der Ire Dicuil(13) um 825.